Bundesgesetzblatt | ausgegeben zu Bonn am 04.05.2021 |
Gesetz zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung
vom 04.05.2021
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1
Aufhebung des Transsexuellengesetzes
Das Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG) vom 10. September 1980 (BGBl. I S. 1654), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 3 des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2787) geändert worden ist, wird aufgehoben.
Artikel 2
Gesetz zur Selbstbestimmung über die Geschlechtsidentität (Geschlechtsidentitätsgesetz
– GiG)
I n h a l t s v e r z e i c h n i s
§ 1 – Begriffsbestimmung
§ 2 – Selbstbestimmung über die Geschlechtszuordnung, Wahrung der Geschlechtsidentität, Rechte
§ 3 – Erklärung zur Geschlechtszugehörigkeit und Namensführung
§ 4 – Gerichtliches Verfahren
§ 5 – Wirkungen der Entscheidung
§ 6 – Folgeerklärungen
§ 7 – Offenbarungsverbot
§ 8 – Anspruch auf Dokumenten- und Datenberichtigung
§ 9 – Eltern-Kind-Verhältnis
§ 10 – Renten und vergleichbare wiederkehrende Leistungen
§ 11 – Verbot genitalverändernder chirurgischer Eingriffe
§ 12 – Aufklärung und Beratung
§ 13 – Ordnungswidrigkeiten
§ 1
Begriffsbestimmung
Für die Zwecke dieses Gesetzes bezeichnet der Ausdruck:
1. „Geschlechtsidentität“ alle geschlechtsbezogenen Aspekte der subjektiv empfundenen menschlichen Identität;
2. „Geschlechtszuordnung“ die Zuordnung einer Person zu einem Geschlecht oder die Nichtzuordnung zu einem Geschlecht.
§ 2
Selbstbestimmung über die Geschlechtszuordnung, Wahrung der Geschlechtsidentität, Rechte
(1) Jede Person hat das Recht auf freie Entwicklung der Persönlichkeit entsprechend ihrer Geschlechtsidentität.
(2) Niemand darf wegen der Geschlechtsidentität oder Geschlechtszuordnung körperlich oder seelisch misshandelt oder diskriminiert werden.
(3) Die rechtliche Geschlechtszuordnung unterliegt der Selbstbestimmung als höchstpersönliches Recht.
(4) Jede Person hat das Recht auf Achtung und respektvolle Behandlung entsprechend der eigenen Geschlechtsidentität sowie darauf, anhand ihrer persönlichen Dokumente entsprechend identifiziert zu werden.
(5) Der Staat schützt die ungehinderte und diskriminierungsfreie Ausübung der Rechte nach diesem Gesetz und fördert die gleichberechtigte Teilhabe unabhängig von der Geschlechtsidentität und der Geschlechtszuordnung.
(6) Das Recht auf freie Entwicklung der Persönlichkeit entsprechend der Geschlechtsidentität umfasst das Recht, über die Durchführung medizinischer Maßnahmen zur Modifizierung des eigenen Körpers im Hinblick auf Erscheinung und körperliche Funktionen unbeeinträchtigt und selbstbestimmt zu entscheiden.
§ 3
Erklärung zur Geschlechtszugehörigkeit und Namensführung
(1) Personen, deren Personenstandseintrag von ihrer Geschlechtsidentität abweicht, können gegenüber dem zuständigen Standesamt erklären, dass die Angabe zu ihrem Geschlecht in einem deutschen Personenstandseintrag durch eine andere in § 22 Absatz 3 des Personenstandsgesetzes vorgesehene Bezeichnung ersetzt oder gestrichen werden soll. Liegt kein deutscher Personenstandseintrag vor, können sie gegenüber dem Standesamt erklären, eine der in § 22 Absatz 3 des Personenstandsgesetzes vorgesehenen Bezeichnungen für sie zu verwenden oder auf die Angabe einer Geschlechtsbezeichnung zu verzichten, wenn sie Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.
Mit der Erklärung können auch neue Vornamen bestimmt werden und geschlechtsspezifische Nachnamen und Bestandteile von Nachnamen geändert werden. Die Erklärungen müssen öffentlich beglaubigt werden; sie können auch von den Standesbeamten beglaubigt oder beurkundet werden.
Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sollen bei der Abgabe ihre Kenntnis darüber bestätigen, dass es von den im Herkunftsstaat geltenden Vorschriften abhängig ist, ob eine Anerkennung der nach diesem Gesetz erfolgten Änderung von Namen oder der Geschlechtszuordnung erfolgt und welche Rechtsfolgen hieran geknüpft werden.
(2) Die Erklärung nach Absatz 1 kann nur persönlich abgegeben werden. Bei Minderjährigen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres bedarf die Erklärung der Zustimmung der sorgeberechtigten Person. Stimmt die sorgeberechtigte Person nicht zu, so ersetzt das Familiengericht die Zustimmung im Verfahren, wenn die Änderung der Geschlechtszugehörigkeit oder des Namens dem Kindeswohl nicht widerspricht; das Verfahren vor dem Familiengericht ist eine Kindschaftssache nach Buch 2 Abschnitt 3 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit.
(3) Die Feststellung, dass der Personenstandseintrag von der Geschlechtsidentität abweicht, obliegt der antragstellenden Person. Die erklärende Person hat gegenüber den Standesbeamten zu versichern, dass sie sich der Bedeutung und Tragweite ihrer Entscheidung zur Wahl eines anderen oder keines Geschlechtseintrages im Personenstandsregister sowie der Änderung des oder der Namen hinreichend bewusst ist. Dabei genügt es, dass die erklärende Person zur Bildung und Betätigung eines natürlichen Willens im Stande ist. Absatz 2 bleibt unberührt.
(4) Für die Entgegennahme der Erklärung ist das Standesamt zuständig, das das Geburtenregister für die betroffene Person führt. Ist die Geburt nicht in einem deutschen Geburtenregister beurkundet, so ist das Standesamt zuständig, das das Eheregister oder Lebenspartnerschaftsregister der Person führt. Ergibt sich danach keine Zuständigkeit, so ist das Standesamt zuständig, in dessen Zuständigkeitsbereich die Person ihren Wohnsitz hat oder zuletzt hatte oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Ergibt sich auch danach keine Zuständigkeit, so ist das Standesamt I in Berlin zuständig. Das Standesamt I in Berlin führt ein Verzeichnis der nach den Sätzen 3 und 4 entgegengenommenen Erklärungen.
(5) Das Standesamt stellt der erklärenden Person eine Urkunde über die Änderung des Personenstandseintrages aus. Auf Antrag erhalten auch Personen, deren Personenstandseintrag nach dem Transsexuellengesetz oder § 45b des Personenstandsgesetzes geändert worden ist, eine solche Urkunde.
§ 4
Gerichtliches Verfahren
Auf das gerichtliche Verfahren sind die Vorschriften nach Kapitel 8 Abschnitt 2 des Personenstandsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung entsprechend anzuwenden.
§ 5
Wirkungen der Entscheidung
Ab dem Zeitpunkt der Entgegennahme der Erklärung durch das Standesamt, dass die erklärende Person als einem anderen oder keinem Geschlecht im Sinne des § 22 Absatz 3 des Personenstandsgesetzes zugehörig anzusehen ist, im Falle der entsprechenden Anwendung des § 49 des Personenstandsgesetzes ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung, richten sich ihre vom Geschlecht abhängigen Rechte und Pflichten nach dem neuen Geschlecht, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist.
§ 6
Folgeerklärungen
Die §§ 1 bis 5 gelten auch für Personen, die eine Erklärung zur Geschlechtszugehörigkeit oder zu ihren Namen in der Vergangenheit bereits wirksam abgegeben haben oder zu ihrer ursprünglich eingetragenen Geschlechtsangabe oder ihren ursprünglich eingetragenen Namen zurückkehren möchten.
§ 7
Offenbarungsverbot
(1) Ab dem Zeitpunkt der Entgegennahme einer Erklärung gemäß § 3 Abs. 1 durch das Standesamt dürfen die von der erklärenden Person zuvor geführten Namen von niemandem in diskriminierender oder schädigender Absicht verwendet werden oder darf sich von niemandem in diskriminierender oder schädigender Absicht auf die vorherige Geschlechtszuordnung der erklärenden Person bezogen werden.
(2) Die vor Entgegennahme der Erklärung geführte Geschlechtszuordnung und die zuvor geführten Namen dürfen ohne Zustimmung der erklärenden Person nicht offenbart oder ausgeforscht werden, es sei denn, dass besondere Gründe des öffentlichen Interesses oder ein glaubhaft gemachtes rechtliches Interesse dies erfordern.
(3) Frühere Ehe- oder Lebenspartner, die Eltern, die Großeltern, die Geschwister und die Abkömmlinge der antragstellenden Person sind nur dann verpflichtet, die neuen Vornamen anzugeben, wenn dies für die Führung öffentlicher Bücher und Register erforderlich ist. Dies gilt nicht für Kinder, die die antragstellende Person nach der Erklärung gemäß § 3 Abs. 1 angenommen hat.
(4) Staatliche Stellen und private Einrichtungen unterstützen die erklärende Person dabei, personenbezogene Daten, die noch unter dem vor der Erklärung gemäß § 3 Abs. 1 geführten Namen oder der zuvor geführten Geschlechtsidentität gespeichert sind, von diesen Bezügen zu befreien. Die Regelungen des Datenschutzrechts, insbesondere zur Löschung und Berichtigung personenbezogener Daten, bleiben unberührt.
(5) Die Absätze 1 bis 4 gelten auch für Personenstandseinträge, die aufgrund der Vorschriften des Transsexuellengesetzes oder § 45b des Personenstandgesetzes geändert worden sind.