Deutscher Bundestag | Drucksache 3/010 |
3. Wahlperiode | 22.02.2021 |
Gesetzentwurf
der Fraktion Bündnis90/ Die Grünen
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 – Ersetzung des Wortes Rasse und Ergänzung zum Schutz gegen gruppenbezogene Menschenwürdeverletzungen)
A. Problem und Ziel
Rassismus ist wie alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ein tief in unserer Gesellschaft verwurzeltes Problem, das in seinen verschiedenen Ausprägungen eine erhebliche Gefahr für die betroffenen Menschen darstellt und unser gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben bedroht. Aktuelle wie frühere Ereignisse und Entwicklungen im In- und Ausland zeigen dies immer wieder und in aller Deutlichkeit. Der historisch als Gegenbegriff zur NS-Rasseideologie gemeinte, aber – weil es beim Menschen keine Rassen gibt – in der Sache falsche Begriff der „Rasse“ bei den Diskriminierungsverboten in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) gibt Anlass zu Missverständnissen. Das Wort „Rasse“ kann zu Missbrauch und falscher Rechtfertigung abwertenden Verhaltens führen und wird zu Recht als Beleidigung empfunden. Die in dem Wort zum Ausdruck kommende willkürliche, auf biologistischen Begründungsmustern oder kulturellen Zuschreibungen beruhende Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschen kollidiert mit der Menschenwürdegarantie und dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Bestehende Verwendungen des Wortes „Rasse“ in anderen nationalen und in internationalen Rechtstexten und darauf bezogene klarstellende Auslegungen ändern an diesem Befund ebenso wenig wie das (richtige) Verständnis von „Rasse“ als soziales Konstrukt. Kurz: Es gibt keine „Rassen“ sondern Rassismus, den es zu bekämpfen gilt. Im Grundgesetz fehlt zudem ein ausdrücklicher Handlungsauftrag an den Staat, Schutz gegen alle Erscheinungsformen gruppenbezogener Verletzung der gleichen Würde aller Menschen zu gewährleisten.
B. Lösung
Ersetzung des Wortes „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG durch das Wort „rassistisch“ in Verbindung mit der Anfügung einer Gewährleistungsverpflichtung als neuem Satz 3 („Der Staat gewährleistet Schutz gegen jedwede gruppenbezogene Verletzung der gleichen Würde aller Menschen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“).
Einer Anpassung des Wortes „rassisch“ in Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG (Wiedereinbürgerungsanspruch bei Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft in der NSZeit aus u. a. rassischen Gründen) bedarf es wegen desZeitraumbezugs der Regelung nicht.
Ein weiterer Reformbedarf in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG – Aufnahme des Merkmals „sexuelle Identität“ in die Liste der speziellen Diskriminierungsverbote – wird Gegenstand parlamentarischer Beratungen im Bundestag. Die beiden Gesetzentwürfe ergänzen sich und können gemeinsam umgesetzt werden.
C. Alternativen
Keine.
Weder die Beibehaltung der derzeitigen Formulierung in Verbindung mit einer klarstellenden externen Interpretation noch eine zudem ahistorische und verfassungssystematisch verfehlte (weil von den anderen Diskriminierungsverboten nicht zureichend erfasste) bloße Streichung des Wortes „Rasse“ vermag eine gleichwertige Abhilfe zu schaffen. Das gilt auch bei Verbindung mit einer zwar denkbaren, aber nur sehr langfristig implementierbaren und nicht von möglichen Missverständnissen freien erweiternden Auslegung des in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthaltenen Verbots der Diskriminierung nach der „Herkunft“ oder einer Ergänzung dieses Begriffes („ethnische Herkunft“). Auch wäre die erforderliche Erfassung von intersektionalen Mehrfachdiskriminierungen nicht zureichend gewährleistet. Eine Ersetzung durch Begriffe wie „ wegen seiner Ethnie“ bzw. „aus ethnischen Gründen“ sowie Erläuterungen des Wortes „rassistisch“ durch Formulierungen wie „aus rassistischen Gründen/Motiven“ wäre auch keine wirksame Verbesserung, weil entweder in der Sache verengend oder weil derartige Zusätze als Erfordernis eines subjektiven Elements, einer diskriminierenden Absicht und damit den Schutzbereich verengend interpretierbar wären
D. Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand
Die Änderung des Grundgesetzes hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte. Haushaltsauswirkungen sind abhängig von der einfachgesetzlichen und administrativen Ausgestaltung bzw. Umsetzung wie z. B. Bildungs- und Fortbildungsaktivitäten.
Entwurf eines Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 – Ersetzung des Wortes Rasse und Ergänzung zum Schutz gegen gruppenbezogene Menschenwürdeverletzungen) vom 22.02.2021
Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen; Artikel 79 Absatz 2 des Grundgesetzes ist eingehalten:
Artikel 1
Änderung des Grundgesetzes
Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch … geändert worden ist, wird wie folgt geändert:
1. In Satz 1 werden die Wörter „seiner Rasse“ und das Komma gestrichen und werden vor dem Wort „benachteiligt“ die Wörter „oder rassistisch“ eingefügt.
2. Folgender Satz wird angefügt:
„Der Staat gewährleistet Schutz gegen jedwede gruppenbezogene Verletzung der gleichen Würde aller Menschen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
Artikel 2
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.
Begründung
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten die Aufnahme des Wortes „Rasse“ in die Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes wohl kaum, auch nicht näher in Bezug auf seine inhaltliche Bedeutung erörtert. Ein auf alle vorgesehenen Diskriminierungsverbote bezogener Verweis auf die Erfahrungen der Vergangenheit reichte aus. Regelungsvorbild war die Badische Verfassung von 1947, die insoweit wiederum auch auf die französische Verfassung von 1946 zurückging. Im Jahr 2018 hat die französische Nationalversammlung das Wort „Rasse“ einstimmig aus der neueren französischen Verfassung gestrichen mit der Begründung, der Begriff sei wissenschaftlich nicht fundiert und rechtlich unwirksam.
Der nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrung des deutschen und europäischen Kolonialismus sowie des Nationalsozialismus höchst problematische Begriff „Rasse“ ist als Diskriminierungsverbot ungeeignet, weil es keine menschlichen Rassen gibt. Gemeint ist das rassistische Motiv. Die Verwendung des Begriffes „Rasse“ verlagert das Problem (die Fehl-Vorstellung der Diskriminierenden) auf den/die Diskriminierten, denn er/sie werden nicht „wegen ihrer Rasse“, sondern aus rassistischen Motiven diskriminiert. Oder rechtspoltisch-praktisch argumentiert: Die Verwendung des Begriffes „Rasse“ führt dazu, dass eine Person, die gegen eine Diskriminierung „wegen ihrer Rasse“ klagen will, vor der Zumutung steht, sich selbst einer Rasse zuzuordnen (H. Cremer).
Von Rassismus als willkürliche, auf biologistischen Begründungsmustern oder kulturellen Zuschreibungen beruhende Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschen sind in Deutschland z. B. Juden, Sinti und Roma, Schwarze Menschen, Muslime, Menschen mit Migrationsgeschichte, die selbst oder deren Vorfahren aus anderen Ländern eingewandert sind, sowie Geflüchtete betroffen. Trotz zunehmender Bemühungen, Rassismus bei Straftaten, Übergriffen, in Publikationen, öffentlichen Äußerungen und Verhaltensweisen etc. besser zu erkennen, gibt es keinen Gesamtüberblick, keine systematische zusammenführende Datenerhebung für Deutschland insgesamt.8 Deshalb können die nachfolgenden Angaben auch nur
einen Ausschnitt darstellen.
Nach einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) gaben 48 % der in Deutschland Befragten mit afrikanischer Abstammung an, in den letzten 5 Jahren vor der Befragung rassistisch belästigt worden zu sein. Die Erfahrungen (der in allen Ländern Befragten) mit rassistischer Belästigung umfassen in den meisten Fällen nonverbale Signale (22 %) oder beleidigende oder bedrohende Kommentare (21 %), gefolgt von Gewaltandrohung (8 %). Die meisten Opfer von rassistisch motivierten körperlichen Angriffen (auch der Polizei) meldeten den Vorfall nirgendwo, entweder weil sie glauben, dass sich aufgrund einer Anzeige nichts ändern würde, oder weil sie kein Vertrauen in die Polizei oder aber Angst vor ihr haben.
Laut Leipziger Autoritarismus-Studie 201810 möchten 49 % der Befragten Sinti und Roma aus den Innenstädten verbannen lassen. Zudem ist nach der gleichen Erhebung ungefähr jeder Zehnte davon überzeugt, dass der Einfluss der Juden „auch heute noch“ zu groß sei – rund 21 % der Befragten stimmen dieser Aussage aßerdem latent zu. Im Jahr 2019 wurden 2.032 antisemitische Straftaten verübt; im Jahr 2018 waren es 1.79911 Im Jahr 2019 wurden insgesamt 950 Straftaten (2018: 910) mit islamfeindlichem Hintergrund erfasst. Die Chronik der flüchtlingsfeindlichen Vorfälle in Deutschland weist eine Vielzahl unterschiedlichster Angriffe auf, darunter sehr schwere Straftaten von Brandanschlägen bis Körperverletzungen.
Diese Zahlen zeigen: Rassismus ist in unserer Gesellschaft eine unleugbare Realität und in vielen Strukturen präsent. Um daran etwas zu verändern bedarf es einer multiperspektivischen Auseinandersetzung und einer umfassenden intersektionalen Antirassismusforschung. Die vorliegend vorgeschlagene Fortentwicklung von Art. 3 Abs. 3 GG ist grundgesetzadäquat konzentriert auf steuerungsfähige Kernaussagen. Sie bindet die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG)
A. Allgemeiner Teil
I. Zielsetzung
Änderung des Grundgesetzes
II. Wesentlicher Inhalt des Entwurfes
Artikel 3 Abs. 3 GG
III. Alternativen
Keine
IV. Gesetzgebungskompetenz
nach Art. 79 GG
V. Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union und völkerrechtlichen Verträgen
Der Gesetzentwurf ist mit dem Recht der Europäischen Union und völkerrechtlichen Verträgen, die die Bundesrepublik Deutschland geschlossen hat, vereinbar.
VI. Gesetzesfolgen
1. Rechts- und Verwaltungsvereinfachung
Dieses Gesetz dient nicht zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung.
2. Nachhaltigkeitsaspekte
Formelles Recht
3. Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand
Die Änderung des Grundgesetzes hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte. Haushaltsauswirkungen sind abhängig von der einfachgesetzlichen und administrativen Ausgestaltung bzw. Umsetzung wie z. B. Bildungs- und Fortbildungsaktivitäten.
4. Erfüllungsaufwand
keiner
5. Weitere Kosten
Keine
6. Weitere Gesetzesfolgen
Nein.
7. Befristung
Das Gesetz ist nicht befristet.
8. Zustimmungspflicht des Bundesrates
Das Gesetz untersteht der Zustimmungspflicht des Bundesrates.
B. Besonderer Teil
Zu Artikel 1
Die vorliegend vorgeschlagene Fortentwicklung von Art. 3 Abs. 3 GG ist grundgesetzadäquat konzentriert auf steuerungsfähige Kernaussagen. Sie bindet die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG)
Ergänzt wird die vorgeschlagene Begriffsersetzung in struktureller Anlehnung an Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG („Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“) und Art. 26 des UN Pakts für bürgerliche und politische Rechte von 1966 (BGBl. 1973 II 1553), wo es heißt, dass das Gesetz gegen Diskriminierung „wegen der Rasse … gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten“ hat, mit einer Gewährleistungsdimension (neuer Satz 3 in Art. 3 Abs. 3 GG „Der Staat gewährleistet Schutz gegen jedwede gruppenbezogene Verletzung der gleichen Würde aller Menschen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“).21 Der neue Satz 3 erfasst nicht nur die in Art. 3 Abs. 3 genannten Diskriminierungsmerkmale sondern stellt zugleich klar, dass sämtliche Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verfassungsrechtlich geächtet sind und dass ein staatlicher Schutzauftrag besteht gegen jede Form gruppenbezogener Anfeindung und Abwertung, sei sie z. B. rassistisch, sexistisch oder homosexuellenfeindlich.